Es vergeht wohl kaum ein Tag, ohne dass wir uns über einen anderen Menschen aufregen. Sei es zu Hause, in der Familie, im Straßenverkehr, an der Kasse im Supermarkt oder auch in den sozialen Medien, immer wieder gibt es Situationen, in denen wir Anstoß nehmen am Verhalten unserer Mitmenschen. Wir entrüsten uns dann über die Ignoranz dieser Leute, über ihre Rücksichtslosigkeit, über ihre Eitelkeit und ihre mangelnde Einsicht. Zuweilen prangern wir sie sogar öffentlich an, indem wir unseresgleichen auf diese Fehlverhalten aufmerksam machen und Bestätigung für unsere Erregtheit suchen.
Seien wir aber einmal ehrlich! Schlecht über andere zu denken ist Ausdruck eigenen Hochmuts. Ob wir es zugeben mögen oder nicht, wenn wir uns über jemanden echauffieren, dann tun wir dies doch stets in dem Glauben, ihm/ihr überlegen zu sein. Wir erheben uns über diese Person und maßen uns an, sie zu be- und zu verurteilen. Insgeheim gefallen wir uns in der Rolle des vermeintlichen Kritikers, der die Dinge beim Namen nennt, ohne uns allerdings auch nur im Ansatz unserer eigenen Vermessenheit bewusst zu werden. Unser Moralismus ist also in Wirklichkeit nur eine versteckte Selbstgefälligkeit, eine Form der Selbstüberhebung, die wiederum der Koran aufs Schärfste verurteilt: „Er (Allah) liebt nicht die Hochmütigen.“ (Koran 16:23)
Mit anderen Worten: Indem wir schlecht über andere denken und reden, tun wir eigentlich nichts anderes, als unsere eigenen Mängel und Verwerflichkeiten auf andere zu projizieren. Wir amüsieren uns darüber, Fehler bei anderen ausfindig gemacht zu haben, ergötzen uns damit aber nur an unserem eigenen Dünkel. Üble Rede ist das Werk eines üblen Charakters. Sie schadet daher nicht nur den anderen, sondern vor allem auch uns selbst.
Mawlana Dschalaluddin Rumi, der große persische Sufi des 13. Jahrhunderts, vergleicht ein solches Verhalten deshalb mit dem eines Löwen, der sein eigenes Spiegelbild für einen Feind hält und sich folglich selbst angreift.
„Oh! Viele Fehler, die du bei den anderen siehst, sind nur Spiegelbilder deiner eigenen Natur, o Leser! In ihnen zeigt sich alles, was du in deiner Heuchelei, deiner Ungerechtigkeit und Sünde bist. Du bist der Übeltäter, und du schlägst dich selbst; dich selbst verfluchst du in diesem Augenblick. Du siehst das Schlechte in dir nicht deutlich, sonst würdest du dich selbst mit Herz und Seele hassen. Du greifst dich selbst an, du Einfaltspinsel, wie der Löwe, der sich selbst anspringt. Wenn du auf den Grund deines eigenen Wesens kommst, wirst du wissen, dass die Niedertracht von dir selbst kommt. Auf dem Grunde des Brunnens wurde es dem Löwen klar, dass der, der jemand anderes zu sein schien, nur sein eigenes Bild war. … Die Gläubigen sind die Spiegel der Gläubigen; dies hat der Prophet gesagt, wird berichtet. Du hast blaues Glas vor deine Augen gehalten; aus diesem Grund erschien die Welt dir blau. Wenn du nicht blind bist, dann weißt du, dass das Blau von dir kommt; sprich schlecht über dich, sprich über niemanden anderen mehr schlecht.“ (Mathnawi I, 1319-1330)
Anstatt uns also weiterhin über die Fehler anderer Menschen zu erregen, sollten wir das nächste Mal vielleicht für einen kurzen Moment innehalten und uns unsere eigenen Unzulänglichkeiten vergegenwärtigen. Wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass die Defizite, die wir meinen, bei anderen zu erkennen, im Grunde genommen nur Abbilder unserer eigenen Unvollkommenheit sind. Oder wie es der wunderbare Hermann Hesse in seiner Erzählung Demian ausgedrückt hat:
„Der Mensch, den Sie töten möchten, ist ja nie der Herr Soundso, er ist sicher nur eine Verkleidung. Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.“ (as)