Als Muslime in Deutschland leben wir in einer Zeit, in der unsere Religion und wir als ihre Angehörigen von allen Seiten kommentiert, inspiziert, eingeordnet und stigmatisiert werden. Zunehmend geraten wir als Muslime – gewollt oder ungewollt – in eine Rolle, die uns dazu drängt, uns ständig zu bestimmten Fragen und Themen zu positionieren. Anders ausgedrückt sind wir in eine Position geraten, in der wir nicht darstellen, wer oder was wir sind, sondern uns ständig rechtfertigen müssen, wer oder was wir nicht sind. „Liberal oder radikal“, „säkular oder islamistisch“, „pro-Erdogan oder anti-Erdogan“, „integriert oder segregiert“. Es scheint, dass Muslime kaum mehr selbst bestimmen können, wer sie sind, für was sie stehen und wie sie selbst die Dinge einordnen. Viele Muslime sind mit diesen Diskursen überfordert und sehen sich daher gezwungen, eine dieser Positionen einzunehmen, ohne zu reflektieren, ob und was für Auswirkungen derartige Positionierungen für uns Muslime in Deutschland haben.
Die Überforderung in diesem Kontext hat vielfältige Gründe. Der wichtigste Grund ist jedoch der niedrige Stellenwert, den wir unserer Religion in unserem Leben beimessen. Schließlich haben „wichtigere“ Dinge im Leben wie die Arbeit, die Familie oder das Studium Priorität für uns. Religion ist in diesem Kontext bloß ein „inner-menschliches“, „privates“, „nebensächliches“ Phänomen für viele. Die Religion wird aus unserem gesellschaftlichen Leben verdrängt und heruntergestuft auf das Private, auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Wir vergessen jedoch, dass zwischenmenschliche Beziehungen (mu‘amalat) die prägende Kraft der muslimischen Gemeinschaft sind. Der individuelle oder rein psychologische Zugang zur Religion führt zu Widersprüchlichkeiten in unserem religiösen Handeln. Unsere Gebete und religiösen Handlungen werden somit heruntergestuft zu einem Mittel, um unsere spirituelle Seite aufzupolieren, ohne jeglichen Einfluss auf unseren sozialen Charakter. Sie gehören nicht mehr zum Mittelpunkt unseres gesellschaftlichen und sozialen Handelns. So kann es dazu kommen, dass wir unsere Pflichtgebete verrichten, aber unbeliebt bei unseren Nachbarn sind, oder dass wir regelmäßig den Koran rezitieren, aber einen schlechten Umgang mit unseren Verwandten haben. Ein einseitiges Aufgehen in religiösen Praktiken, die keinen unmittelbaren Einfluss auf unseren Umgang mit anderen Menschen oder unser Gewissen haben, führt zu Unaufrichtigkeit, schadet mit der Zeit unserem spirituellen Bezug zu Gott und lässt ein schlechtes Licht auf Muslime werfen.
Wir geben unser Bestes, um mehr Erfolg im Beruf, im Studium oder sogar in unserem Ernährungsverhalten zu haben. Jedoch setzen wir uns keine Ziele, um unseren Glaubensbrüdern oder -schwestern oder auch anderen Mitmenschen nützlich zu sein und somit ein positives Vorbild für unseren Glauben darzustellen. In diesem Zusammenhang haben wir nicht verstanden, dass gute Taten, ein guter Charakter und andere Tugenden in direkter Verbindung zur Aufrichtigkeit (ikhlas) stehen.
Nur eine aufrichtige und soziale Aktivität in unserem Din wird es ermöglichen, weg von einer reagierenden Rolle hin zu einer mitbestimmenden Rolle in unserer Gesellschaft zu gelangen. So müssen auch unsere intellektuellen Diskurse eingebettet sein in eine aufrichtige Religiosität, welche konsequentes Handeln mit sich bringt. Denn der Islam erlaubt weder ifrad, Isolation, noch tafrid, extreme Individualisierung. Jeder Bereich unseres Lebens, den wir unserer individuellen Logik oder unseren inneren Gelüsten überlassen, ohne unseren Glauben in Betracht zu ziehen, wird uns das wegnehmen, was uns als Muslime ausmacht. Jeder Bereich, in dem wir nicht zeigen können, wofür wir stehen, wird dazu führen, dass dieses Vakuum anderweitig gefüllt wird. So müssen wir uns immer wieder rechtfertigen, wofür wir nicht stehen und drängen uns somit eigenhändig in eine passive und reagierende Rolle. Daher müssen wir unser Bewusstsein darüber stärken, dass unser Glaube eine Verantwortung (amana) mit sich bringt, die letzte Offenbarung Gottes würdevoll und aktiv wirksam zu machen. Dies können wir nur vollbringen, wenn unser din der Maßstab jeder einzelner unserer Handlungen wird, sei es in unserem privaten Leben oder in der Gesellschaft.
In diesem Sinne spricht Allah im Koran: „Wir haben das Anvertraute den Himmeln und der Erde und den Bergen angeboten, aber sie weigerten sich, es zu tragen, sie scheuten sich davor. Der Mensch trug es – gewiß, er ist sehr oft ungerecht und sehr oft töricht“ (al-Ahzab/33:72). (fh)