Vor einigen Freitagsworten haben wir gemeinsam darüber nachgedacht, warum es keine „konservativen“ Muslime geben kann. Am heutigen Freitag wollen wir näher beleuchten, welche Verirrungen sich hinter der Formulierung „liberaler Muslim“ verbergen.
Bereits die Realität unserer gesellschaftlichen Diskussion über vermeintlich „konservative“ und „liberale“ Muslime verdeutlicht mit der ihr innewohnenden destruktiven Spannung, dass in dieser konstruierten Spaltung von Muslimen bereits der Keim gegenseitiger Anfeindung und damit wenig Segen für unser Zusammenleben liegt. Dem Begriff des Liberalismus entsprechend betonen Personen, die sich explizit als „liberale Muslime“ verstanden wissen wollen, ihre Glaubensauffassung wurzele in dem Verständnis von Freiheit.
Häufig genug muss aber die Abgrenzung, die Distanzierung, die Zurückweisung anderer Muslime, nämlich jener, die als „konservativ“ markiert werden, dafür herhalten, ein vermeintlich freiheitliches Islamverständnis darzulegen. Das ist nicht sehr überzeugend.
Um den eigenen „liberalen“ Anspruch zu betonen, verlieren sich gerade „liberale“ Muslime nicht selten in einer Abgrenzungsinszenierung, bei der allein die Opposition zu etablierten Formen religiöser Praxis bereits als Ausweis besonderer Freiheitlichkeit herhalten muss. Aber nur weil man den Anspruch verfolgt, etwas anders zu machen, als alle anderen, folgt daraus nicht zwangsläufig die Freiheitlichkeit des eigenen Tuns.
Dies kann nur dort in einem solchen Automatismus als wahr angenommen werden, wo der „konservative“ Gegner in seiner religiösen Praxis als das Schlechte, Rückständige, Unfreie, Zwanghafte, Gewalttätige schlechthin beschrieben wird. Nicht ohne Grund finden wir in den Verlautbarungen „liberaler Muslime“ deshalb häufig die Dämonisierung traditioneller religiöser Anschauungen und Praktiken.
Dabei wohnt bereits der Begrifflichkeit des Liberalismus eine Gedankenfigur inne, die sich im religiösen Feld – insbesondere des Islam – kaum aufrechterhalten lässt; oder eben zu innerislamischen Widersprüchen führt.
Zunächst liegt dem Verständnis des Liberalismus das Individuum in seinem Behauptungsanspruch gegen staatliche Macht zu Grunde. Es ist die Freiheit des Einzelnen, die sich gegenüber der Willkür staatlicher Gewalt behauptet. Im Zentrum des Liberalismus steht also der Mensch.
Diese Grundannahme ist vielfach auch in den Positionen „liberaler Muslime“ wiederzufinden. Dort soll der Mensch ins Zentrum des Glaubens gerückt werden. Es ist vielfach von einem „mündigen Muslim“ die Rede, der Gott auf „Augenhöhe“ begegnet, den Gott als „Mitliebenden“ sucht und braucht.
Es ist zu ahnen, dass in dieser Gedankenwelt Gott auf die Ebene des Menschen heruntergebrochen werden soll, um dem Menschen durch den Akt dieser „Emanzipation“ zur „Mündigkeit“ zu verhelfen und ihn so zur individuellen Freiheit zu führen – und damit heraus aus der „Unterwerfung“ als die der Islam immer noch viel zu häufig verkannt wird.
Eine solche Position verkennt nicht nur die Grundaussagen, die der islamischen Offenbarung zur Natur des Menschen innewohnen – in gewisser Weise erfüllt sie sogar die Voraussagen der islamischen Offenbarung in Bezug auf die schöpfungsbedingten Schwächen und irrigen Neigungen des Menschen.
Der strikte Monotheismus des Islam, verkörpert in der Negation mit der sein Glaubensbekenntnis „Kein Gott, außer dem Einen“, weist auf die größte Gefahr hin, die der menschlichen Natur zu eigen ist. Der Islam geht eben nicht davon aus, dass das eigennützige Handeln des Einzelnen automatisch zum Vorteil der Allgemeinheit gereicht. Gemäß dem Islam ist dem Allgemeinwohl eben nicht am besten gedient, wenn jeder nach dem größten Vorteil für sich selbst strebt.
Der Islam will vielmehr die natürliche Eigensucht des Menschen, die den Menschen versuchende Gier und sein Streben nach Macht einhegen – durch seinen deutlichen Hinweis auf die kollektive Verantwortung des Menschen. Jeder Mensch trägt Verantwortung für das Gemeinwesen, aus dem er individuelle Vorteile zieht. Somit obliegt es dem Menschen, sich für dieses Gemeinwesen, für das Allgemeinwohl einzusetzen. Das Wohl aller kann nur gesteigert werden, wenn der Mensch bereit ist, seinen Eigensinn zu zähmen.
Die Bereitschaft hierzu muss sich aus der Freiheit des Individuums entwickeln, nämlich dergestalt, dass er ohne Zwang, ohne staatliche Gewalt, im Bewusstsein seiner Verantwortung für das Gemeinwesen dazu bereit ist, selbstlos zu handeln. Um seine Eigensucht zu überwinden, muss er sich Gott zuwenden, er muss sich Gott ergeben. Diese Ergebenheit in Gott, im Vertrauen auf den Ausgleich zwischen Eigenwohl und Allgemeinwohl, diese Selbstdisziplinierung, dieses Streben nach individuellem Glück, persönlicher Freiheit, eigenem Wohl bei gleichzeitigem Einsatz für das Glück, die Freiheit und das Wohl aller, bedeutet nichts anderes als das Streben nach Silm und Selam.
Aus diesen beiden Begriffen setzt sich das Wort „Islam“ zusammen. Der so als Ausgleich zwischen Individualinteresse und Allgemeinwohl verstandene und konkret gelebte Islam wird in der Offenbarung Gottes als „einzige Religion bei Gott“ beschrieben: Hier wird also nicht eine konkrete konfessionelle Religionspraxis oder Glaubenszugehörigkeit definiert; sondern eine Grundhaltung, mit der das Individuum sich selbst überwindet und zum Wohle aller Gott anvertraut, sich ihm ergibt.
Ein Glaubensverständnis jedoch, das in dieser Funktion Gottes nur eine zornige Machtinstanz erkennen will, darin nur Unmündigkeit wahrnimmt und empfiehlt, sich hiervon zu emanzipieren und den Menschen selbst ins Zentrum der Beziehung zu Gott stellt, erliegt dem Drang des Menschen, sich alles und jeden zum Untertan zu machen. Eine solche Haltung kann angesichts der menschlichen Natur nur darin enden, dass der von sich überzeugte Mensch alles und jeden zu opfern bereit ist, um sich selbst zu behaupten.
Aber wenn wir nicht nur glaubten, sondern tatsächlich wüssten, dass eine allmächtige, allwissende göttliche Instanz existiert, hätten wir dann wirklich den Impuls, uns gegenüber diesem Schöpfergott als „mündiger“ Muslim auf „Augenhöhe“ begeben zu wollen? Oder wäre es nicht die natürlichste, die selbstverständlichste, die angemessenste Reaktion, sich vor diesem allmächtigen Gott fünfmal am Tag in Dankbarkeit und Ergebenheit zu verbeugen?
Und es ist Gott selbst, der durch seine Mittelbarkeit, seine Unfassbarkeit, seine Unvorstellbarkeit uns die Freiheit schenkt, diese Ergebenheit in ihn als Akt der freien Entscheidung, der täglich wiederholten Freiheit des Glaubens zu erleben. Angesichts dieser Gnade kann und darf es keine Unfreiheit, keinen Zwang, keine Gewalt zwischen uns Menschen geben. (mk)