Die Hadsch-Saison ist fast vorüber. Viele unserer Glaubensgeschwister haben auch dieses Jahr wieder Mühe und Strapazen auf sich genommen, um die heiligen Stätten des Islams zu besuchen. Diejenigen von uns hingegen, die zu Hause geblieben sind, haben mit freudiger Anteilnahme und tiefer Wertschätzung die Pilger auf ihre Reise verabschiedet, und womöglich hat der eine oder andere von uns ihnen sogar den Wunsch mitgegeben, dass sie uns in ihre dortigen Gebete einschließen mögen.
Nach der Verabschiedung der angehenden Hadschis kommt gewöhnlich das große, neugierige Warten auf ihre Rückkehr. Zumindest war dies in der Vergangenheit der Fall. Denn seit einigen Jahren nun haben wir dank der sogenannten sozialen Medien die Möglichkeit, ihnen auf Schritt und Tritt zu folgen. Von der Ankunft in Saudi-Arabien über das Ausharren in Muzdalifa und den Gang zwischen Safa und Marwa bis hin zu dem ersten Erblicken der Kaaba, sämtliche Stationen der Reise werden heute anhand von Selfies dokumentiert und fleißig auf Instagram, Facebook und Twitter geteilt.
Gleichwohl lässt sich dieses Phänomen nicht nur während des Hadsch beobachten. Plattformgerecht aufbereitet und unentwegt gepostet werden auch Selfies aus bedeutenden Moscheen andernorts oder vom Zugegensein in sonstigen religiösen Zeremonien. Einige Geschwister legen offenbar auch großen Wert darauf, dass wir an unseren Bildschirmen mitverfolgen, wie sie ihre Liebsten am Krankenbett besuchen, ihre verstorbenen Verwandten beerdigen oder mit einer (!) zur Fürbitte erhobenen Hand am Grabe eines ihnen nahestehenden Menschen verweilen.
Als neues Kommunikationsmittel genießt das Selfie zweifellos eine enorme gesamtgesellschaftliche, ja, weltweite Popularität. Es ist also nicht nur unter uns Muslimen verbreitet. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – stellt sich aber die Frage, welche Rolle es denn eigentlich in der Verständigung über unseren Glauben spielen müsste.
Wieso bedienen wir uns überhaupt so extensiv einer Mitteilungsform, die letztlich nur darauf aus ist, möglichst viele Likes, Shares und Kommentare zu erhaschen? Warum sind wir enttäuscht und unzufrieden, wenn die erwünschte Zahl der Likes einmal ausbleibt?
Dabei spricht Gott im Koran (Sure 39, Vers 2) zu uns: „Wir haben die Schrift mit der Wahrheit zu dir hinabgesandt. Diene nun (dem einen) Allah und stell dich in deinem Glauben ganz auf Ihn ein!“
Auf Ihn sollen wir uns einstellen. Weshalb also noch die Suche nach Bestätigung der eigenen Frömmigkeit auf Facebook & Co.? Müssen wir denn bei der Ausübung unseres Glaubens all jenen oberflächlich daherkommenden und abgedroschenen Kommentaren à la „maschallah“ – im Idealfall gepaart mit ausdrucksstarken Emojis – wirklich eine Relevanz beimessen? Oder geht es in der religiösen Praxis eigentlich um etwas völlig Anderes?
In einem berühmten Hadith lehrt uns unser Prophet (s), dass Schamhaftigkeit und Zurückhaltung Teil des islamischen Glaubens seien (Buchari). Die sogenannten sozialen Medien aber bewirken das genaue Gegenteil. Sie befördern in uns eine nur schwer zu befriedigende und bisweilen unkontrollierbare Gier nach Aufmerksamkeit. Zugegeben, es ist nicht immer einfach, sich dem zu widersetzen. Laufen wir dann aber nicht Gefahr, einer Art digitalem Exhibitionismus anheimzufallen? Es mag zwar sein, dass es etwas Gutes hat, wenn der gelebte Islam auch in den sozialen Medien eine gewisse Sichtbarkeit erlangt. Das sollte uns jedoch keineswegs dazu verführen, unsere Religiosität und uns selbst als praktizierende Muslime derart in Szene zu setzen.
Als Vehikel einer narzisstischen Selbstdarstellung – und so muss man es nun einmal nennen – tut das Selfie aber genau das. Primär geht es nicht mehr um die Kaaba. Denn ihr kehre ich buchstäblich den Rücken, um mich selbst in einer betont frommen Geste in den Vordergrund zu spielen. Seiner eigentlichen Bedeutung wird der Besuch dieses heiligen Ortes damit gänzlich beraubt. Er dient nur noch als Bühne für die Zurschaustellung meiner eigenen Frömmigkeit.
Dies gilt im Übrigen für den Hadsch ebenso wie für scheinbar kleinere Gottesdienste wie den Besuch eines kranken Menschen. Auch bei diesem werden wir nämlich, so der Prophet (s) in einer Überlieferung von Muslim, niemand Geringeren finden als Gott. Durch das Selfie wird daher jede Begegnung mit Gott, jede noch so tiefgehende Erfahrung in Seinem Angesicht zu einer banalen Pose degradiert.
In einer Überlieferung von Buchari zählt unser Prophet (s) sieben Gruppen von Menschen auf, die Gott an jenem Tag, an dem es keinen anderen Schutz gibt, unter Seinen Schutz nehmen werde. Zu einer dieser Gruppen zählt, so der Prophet (s), derjenige, „der in der Einsamkeit Gottes gedenkt, und ihm dabei die Tränen in die Augen steigen“.
Wenn wir also unserem Schöpfer demnächst wieder einen Dienst erweisen, dann sollten wir unsere spirituellen Höhenflüge lieber für uns behalten, das Handy ausnahmsweise einmal in der Tasche lassen und uns den Dingen unmittelbar zuwenden, anstatt ihnen den Rücken zu kehren. Vielleicht finden wir dann Anerkennung bei Allah… Und zwar ganz ohne Likes! (as)