Die Nacht der Vergebung (arab. Lailat al-Barā’a) ist ein besonders gesegneter Feiertag für uns Muslime. Ein Tag, der uns jedes Jahr die Möglichkeit gibt, in uns zu horchen, über unsere Fehler und Sünden zu reflektieren und Gott um deren Vergebung zu bitten. Außerdem gibt dieser Tag uns die Gelegenheit, uns spirituell auf den bevorstehenden Fastenmonat Ramadan vorzubereiten. Nach einer Überlieferung des Propheten, ist der Monat Schabaan, in dem wir uns noch befinden, darüber hinaus der Monat, in dem der Todesengel die Namen derjenigen erhält, die in diesem Jahr sterben werden.
Die Nacht der Vergebung ist folglich ein besonderer Tag; einer, der mir seit meiner Kindheit ein ganz eigentümliches Gefühl von Unvermögen gegenüber Gott gibt und mir meine Grenzen als Mensch aufzeigt. Ich erinnere mich an viele Nächte, in denen ich dafür betete, die Namen meiner Liebsten mögen dem Todesengel verschleiert bleiben. Es verging Jahr um Jahr und ich begriff immer wieder, dass dies nicht selbstverständlich war im Angesicht der Tatsache, dass es viele Andere leider traf. Aus diesem Bewusstsein heraus kann jedoch eine positive Weltbeziehung erwachsen, die wie eine Klammer um das Leben greift. In dem Bewusstsein, dass jeder noch so monoton scheinende Tag eigentlich ein Grund zur Freude ist. Auch wenn es einem kitschigen Instagram-Spruch gleicht: Dass jeder Tag ein Geschenk ist. Auch der Kaffee am Morgen wäre in diesem Bewusstsein nicht mehr selbstverständlich.
Was für Gefühle kann man aber noch mit dem Bewusstsein des Todes als ständigen Wegbegleiter verbinden? Ängste und Sorgen, die diese Freude in den Schatten stellen? Reagiert man dann darauf, indem man sich krampfhaft an das Leben festhält, das – wie wir gelernt haben – jeden Moment dahinschwinden könnte? Unter welchem Vorzeichen blicken wir also jedes Jahr auf diese Nacht, die uns auch an den Todesengel erinnert?
Wir wissen, dass das Leben nicht kontrollierbar ist; dies macht es erbarmungslos und lebendig zugleich. Denn ohne den Tod gäbe es auch nicht das Leben, das Leben ist erst in Abgrenzung zum Tod also so wertvoll. Der Islam gibt uns keine Garantie dafür, dass unsere Körper unsterblich sind, wohl aber unsere Seelen, unser Bewusstsein – das, was uns eigentlich ausmacht. Die Nacht der Vergebung gibt uns jedes Jahr aufs Neue eben diese Möglichkeit, uns diese Vergänglichkeit des Körpers und der Welt vor Augen zu führen. Und vor allem auch die Perspektive, einen Neuanfang zu machen. Denn Gott verspricht uns jedes Jahr in dieser Nacht, uns unsere Sünden zu verzeihen.
Einer Überlieferung zufolge sagte der Prophet, Friede und Segen auf ihm, nämlich:
“Wenn die Hälfte des Schabaan kommt, steht in seiner Nacht auf. Fastet an diesem Tage. Denn Allah steigt nach Sonnenuntergang zu dem untersten Himmel hinab und fragt: «Gibt es niemanden, der um Vergebung bittet, damit Ich ihm vergeben kann? Gibt es niemanden, der um Versorgung bittet, damit Ich ihn versorgen kann? Gibt es keinen, der Sorgen hat, dem Ich diese nehmen kann?” Dieser Ruf dauert dann bis zum Morgen an.»
Barā’a im Arabischen bedeutet auch Unschuld. Daher wird die Nacht manchmal auch als die Nacht der Unschuld bezeichnet.
Dieser Tag erinnert uns also jedes Jahr an unsere Grenzen als Menschen und an unsere Ohnmacht gegenüber Gott. Dies ist im Gegensatz zum Fortschrittsglauben des Zeitgeists jedoch nichts Negatives, das wir zu überwinden beabsichtigen sollten: Lasst uns diese Grenzen mit einem Lächeln im Gesicht annehmen und uns in Gottes Hände fallen lassen, Der dich und mich besser kennt, als jeder andere. Nicht umsonst heißt es im Quran: „Wir erschufen doch den Menschen und wissen, was ihm sein Inneres zuflüstert. Und wir sind ihm näher als (seine) Halsschlagader.“ (Sure Kâf, 50:16)
Möge die Kraft aus dieser Nacht in uns das Jahr über fortwirken. Auch und vor allem in Zeiten wie diesen, brauchen wir dieses Bewusstsein und die Barmherzigkeit Gottes mehr denn je.
Hilal Sezgin-Just