Macht der böse Andere mich zum Guten?

In unserer muslimischen Community im Allgemeinen und hier in Europa im Speziellen hat sich in den letzten Jahren, ja vielleicht sogar Jahrzehnten ein Automatismus entwickelt, was wir kaum in der Lage sind zu hinterfragen. Vielmehr werden wir wie ein Sog hineingezogen, getrieben von Emotionen und in Abwesenheit einer grundlegenden Reflektion darüber.

Immer wieder werden tragische Vorkommnisse oder Negativereignisse herangezogen, um Gläubige in verschiedener Weise zu mobilisieren, statt darüber zu reflektieren, welche Lehren man als Gemeinschaft aus diesen Ereignissen ziehen kann, und welche Fehlentwicklungen auf unserer Seite erst dazu geführt haben. So heißt es im Koran: „Was dich an Gutem trifft, ist von Allah, und was dich an Bösem trifft, ist von dir selbst.“ (4:79)

Natürlich gibt es politisch-ideologische Akteure unter uns Muslimen, die genau auf die emotionale Instrumentalisierung dieser Ereignisse setzen, um ja nicht kritisch über die innermuslimischen Zustände nachzudenken, und darüber, was dieses politisch-ideologische Gedankengut zum Entstehen dieser negativen Ereignisse beigetragen hat.

Mittlerweile wird ein absurder und theologisch mehr als fragwürdiger Märtyrerkult betrieben, der die Muslime lähmt und davon abhält, genau diese Fragen zu stellen. Und wenn man sich mal erlaubt, die Frage zu stellen, was dieser Märtyrerkult, diese Überhöhung und Ikonisierung über das Menschenbild gewisser ideologischer Gruppierungen, die dies seit Jahrzehnten praktizieren, aussagt, kommt immer wieder der reflexartige Vorwurf, dass es sich nicht gehört, gerade jetzt im Augenblick der Trauer diese Frage zu stellen.

Seien wir aber doch ehrlich: Solche Fragen darf der einfache Muslim laut dieser Akteure, die das Märtyrerkult zum identitätsstiftenden Element ihrer ideologischen Bewegung gemacht haben, nie stellen. Egal wann und egal in welchem Kontext. Denn die Antwort auf diese Frage würde ihnen ein wichtiges Instrument bei der Indoktrinierung und Mobilisierung aus der Hand nehmen.

Die Ungerechtigkeiten und die Bösartigkeit des Gegners können nie ein Beweis dafür sein, dass die eigenen Positionen gerecht und edel sind. Der Islam ist keine Religion, die das Leben verneint, Kraft aus der Negativität der Anderen zieht und sich indirekt auch von dieser Negativität bestimmen lässt, sondern die prophetische Sunna und der Koran als Offenbarung stehen für ein positives Verhältnis zum diesseitigen Leben und hat sich nie über seine Gegner definieren lassen. So müssen wir uns als Muslime immer wieder mit Fragen auseinandersetzen, die auf dem ersten Blick sehr unangenehm wirken mögen, aber die von elementarer Bedeutung sind, wenn wir die Offenbarung ernst nehmen und uns nicht von politisch-ideologischen Gruppierungen, die vielleicht religiös daherkommen, manipulieren lassen wollen.

Als Muslime in Deutschland sollten wir unser Augenmerk auf unsere Herausforderungen hier vor Ort richten, statt uns durch politische Konflikte, die in ganz anderen Gegenden der Welt vor sich gehen, lähmen zu lassen. Der Blick auf das Entfernte hindert die Wahrnehmung des Naheliegenden. Es führt zur Passivität und Frustration, und in einem nächsten Schritt zu einer Ideologisierung. Die Beschäftigung mit der eigenen Umgebung und das zivilgesellschaftliche Engagement dagegen führt zu etwas Konstruktivem. Der muslimisch zivilgesellschaftlicher Einsatz hier in unserem Land ist gerade in diesen aufgeladenen Zeiten gefragter denn je. (eg)