Vom Haben zum Sein

Das fünfmal tägliche rituelle Gebet (as-salat, namaz) gehört zu den religiösen Pflichten jedes gläubigen Muslims und jeder gläubigen Muslima. Es gilt, neben dem Fasten, dem Zahlen der Armensteuer und der großen Pilgerfahrt nach Mekka, als die Bestätigung und praktische Entfaltung des muslimischen Glaubensbekenntnisses, der schahada. Die Inhalte des Glaubensbekenntnisses – der Glaube an die Einheit Gottes, der Gesandtschaft des Propheten Muhammad a.s. und an die Wahrheit der vorislamischen Offenbarungen – werden dadurch mit Leben gefüllt. Der Glaube wird somit durch die Ausführung der rituellen Pflichten praktisch gelebt.

Von allen rituellen Pflichten fällt die Einhaltung des Gebets den meisten Musliminnen und Muslimen schwer. Was erschwert aber vielen Gläubigen, das Gebet jeden Tag pünktlich zu vollziehen? Ist es der Rhythmus, weil das Gebet jeden Tag, fünf Mal zu bestimmten Tageszeiten verrichtet werden muss? Ist es die Dichte unserer kostbaren Lebenszeit, die wir Gott schenken sollen?

Wer schon einmal vor und nach dem Gebet auf die Uhr geschaut hat, wird bemerkt haben, dass es in Wirklichkeit nur wenige Minuten unseres Tages in Anspruch nimmt. Wenn wir es schaffen, fünf Mal täglich für ein paar Minuten unsere E-Mails und unsere Social-Media-Accounts zu checken, dann sollte es doch ohne Weiteres auch möglich sein, fünf Mal täglich Gott rituell zu gedenken. Was macht also dann die Einhaltung des Gebets so schwierig?

Die Herausforderung des Gebets besteht nicht in seiner Einhaltung. Das unzufriedene Gefühl erwächst vielmehr aus etwas anderem. Tief in unserem Inneren spüren wir manchmal die große Ruhe und Dankbarkeit, die wir im Gebet begegnen. Doch im hektischen Alltag spüren wir beim Gebet oftmals, dass wir zwar die äußerliche rituelle Handlung korrekt vollzogen haben, aber im Inneren nicht beim Gebet waren.

Was heißt das aber: nicht beim Gebet waren? Es bedeutet, dass wir beim Gebet nicht bei uns selbst waren. Wenn wir nicht bei uns selbst sind, wenn unsere Gedanken zerstreut sind, dann können wir auch nicht Gott einen Teil von unserer Zeit schenken. Dann ist das Gottesgedenken in ritueller Form nicht wirklich gelungen. Das spüren wir alle beim Gebet.

Jede Muslima und jeder Muslim kennt das Gefühl: Sobald wir die Hände zum takbir erheben, geht ein innerer Sturm von Gedanken und Gefühlen los. Ein Chaos an Gedanken- und Gesprächsfetzen, Erinnerungen und Echos an Gehörtem, Gesehenem und Gesagten überfällt uns. Dieser Zustand ist, weil wir nicht bei uns selbst sind. Es ist nur eine Reflexion unseres alltäglichen inneren Zustands des permanenten Wollens. Ständig wollen wir irgendetwas erreichen und sind gedanklich und emotional auf der Flucht nach vorne. Sobald wir uns in die Gebetshaltung begeben, werden wir von dieser inneren Haltung überrannt. Der Zustand des Bewusstseins, der beim Gebet erforderlich ist, lässt sich nur mit großer Schwierigkeit herstellen.

Was fehlt also beim Gebet, damit es nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich erfüllt ist? Es fehlt die Konzentration, vor allem auf sich selbst. Tiefe Konzentration erfordert eine ständige Übung. Aus diesem Grunde kannten alle vormodernen Religionen und Gesellschaften Formen von tiefen Konzentrationspraktiken, in denen der Mensch übt, sich selbst zu erfahren. Hierbei geht es nicht um eine oberflächliche Form der Entspannung. Oberflächliche Übungen dienen nur dazu, um sich besser zu fühlen und in der Gesellschaft besser zu funktionieren. Wer jedoch den Charakter und eine positive Veränderung des Geistes anstrebt, muss anstrengende Praktiken durchführen. Nur so kann sich der Geist von seinen inneren Zwängen befreien. Nur so kann er vom Zustand des Wollens, indem er nicht bei sich ist, zum Zustand des Beisichseins finden.

Diesen Zustand der tiefen Konzentration kann jeder Mensch erreichen. Täglich einige Minuten versuchen, an nichts zu denken, und alle Gedanken, die aufkommen, fortwischen. Nichts anderes machen Derwische und Sufis, Zen-Buddhisten und Yogis, wenn sie ihre Gedanken und sich selbst auf einen Gottesnamen konzentrieren.

Viele Menschen glauben heute, dass die Menschheit durch Denkleistung ihre Probleme lösen könne. In einer Zeit, in der aber hochentwickelte Rechner uns die Denkleistung abnehmen, spüren wir, dass es nicht um unser Denkvermögen geht. Das Denken kann nur äußere Formen der Unfreiheit verändern, wie politische Herrschaft und Tyrannei. Der Glaube aber arbeitet an unserer Seinsform. Am Beisichselbstsein. Hierfür müssen wir an unserem Konzentrationsvermögen arbeiten.  Meditative Praktiken wie dhikr können eine hervorragende Übung sein, um diesen Zustand des Seins zu finden und den Zustand des Wollens abzulegen. (ns)