Allein mit dem Tod

Diesen Freitag geht es um ein sehr persönliches Thema. Ein Thema, das uns alle angeht, uns alle betrifft. Die Gedanken daran flackern von Zeit zu Zeit in jedem von uns auf. Sie beschäftigen uns eine Weile und dann verdrängen wir sie wieder. Es ist ein Thema, das uns daran erinnert, was es bedeutet, zu leben – und sich seiner Vergänglichkeit bewusst zu sein. Wir wissen um die Endlichkeit unseres Lebens, auch wenn wir uns in besonderen Momenten, häufig in Glücksmomenten voller Euphorie und Überschwang, nahezu unsterblich fühlen. 

Wieviel Lebenszeit uns jeweils bemessen ist, wissen wir in der Regel nicht. Manchmal reißt der Tod geliebte Menschen mitten aus unserem Leben. Manchmal durchleben wir als Betroffene oder als Angehörige die schwere Prüfung von Krankheit und Leid im Angesicht des bald gewissen Todes. 

Ich glaube, dass jeder anders mit diesem Thema und den schwierigen Situationen von Verlust und Abschied umgeht. Ich bin mir aber auch sicher, dass es Augenblicke und Empfindungen gibt, die sich ähneln, die vergleichbar sind. Ich will von solchen Momenten in meinem Leben erzählen, weil ich glaube, in diesen Situationen mit Fragen konfrontiert worden zu sein, die uns alle betreffen und vielleicht auch belasten. 

Vielleicht gelingt es, mit diesem Freitagswort einige Gedanken anzustoßen, Nachdenklichkeit herzustellen, damit wir in diesen intensiven Momenten unserer Lebenserfahrung mehr Trost und Halt finden, als es momentan oft der Fall ist. 

Ich habe im Dezember 2015 meine Mutter nach völlig überraschender, kurzer und schwerer Krankheit verloren. Im vergangenen März starb mein Vater in hohem Alter friedlich im Schlaf. Beide habe ich in meiner Heimatstadt Lübeck beerdigt. Ein großer Beistand waren mir dabei die lokale Moscheegemeinde und ihre Mitglieder. Ihre Anteilnahme, Unterstützung und Hilfe waren wichtige Momente einer gemeinschaftlich gelebten Religion, die in den wichtigen Momenten des Lebens und Sterbens das Gefühl von Geborgenheit und Rückhalt vermitteln. 

Deshalb ist es mir wichtig, dass dieses Freitagswort nicht als Kritik verstanden wird, sondern als ganz persönliche Erfahrung und vielleicht als Selbstbefragung darüber, ob unsere Selbstverständlichkeiten und gewohnten, eingeübten Praktiken nicht besser auf unsere menschlichen Bedürfnisse und Empfindungen angepasst werden können. 

Zu unseren Trauerritualen gehört es, die Verstorbenen möglichst schnell zu beerdigen. In der Regel soll die Erdbestattung innerhalb von drei Tagen nach Eintritt des Todes erfolgen. Das ist ein Zeitraum, in dem der Verlust alle Gedanken und Handlungen überlagert. Die Erfahrung des Verlustes eines nahen Angehörigen, eines Elternteils wirkt geradezu betäubend. Man kann nicht in gewohnter Weise denken und reagieren. Man fühlt sich oft einsam, auch in Gesellschaft von Trauergästen und Freunden, die einem beistehen. 

Das Ritual der schnellen Beerdigung lässt kaum Raum für die Artikulation von Gefühlen, für das Erinnern, Reden und Gedenken an die Verstorbenen. Die Vorbereitung auf die Bestattung, das Totengebet und die tatsächliche Einbettung der Verstorbenen in das Grabfeld verläuft meinem Empfinden nach routiniert und gehetzt zugleich. Es geht kaum darum, sich an die Verstorbenen zu erinnern, über sie zu sprechen oder die Erinnerung an sie miteinander zu teilen. Es sind Stunden, die durch praktische Zwänge vorbestimmt sind und kaum Raum lassen für eine individuelle Art der Trauer. 

Im Falle meines Vaters habe ich als nächster Angehöriger gleichen Geschlechts die Totenwaschung und Einhüllung des Verstorbenen in die Leichentücher vorgenommen bzw. mich dabei vom Imam anleiten und unterstützen lassen. Es ist eine intensive Erfahrung, seinen Vater in dieser Weise zu verabschieden. Ihn ein letztes Mal herzurichten, ihn auf die letzte Reise vorzubereiten. Das Wasser und die sanfte Waschung aller Körperglieder lockern die Totenstarre und vermitteln ein Gefühl von Nachgiebigkeit und Zärtlichkeit. 

Man empfindet Dankbarkeit. Man stellt sich vor, wie die eigenen Eltern einen selbst in frühester Kindheit gepflegt, gereinigt, umsorgt und jeden Tag mit Freude, aber sicher auch mit Ängsten und Sorgen, auf die Unwägbarkeiten des Lebens vorbereitet haben. Nun gibt man einen Bruchteil dieser Fürsorge zurück und bereitet seinen Vater auf ein Leben nach dem Tod vor, das trotz aller Glaubensüberzeugung angesichts der unmittelbar sichtbaren körperlichen Vergänglichkeit doch auch Momente des Zweifelns und der Ungewissheit in sich birgt. 

Das Hinabsteigen in das Grabfeld und das eigenhändige Einbetten zur letzten Ruhe sind ein finaler Moment großer Intensität und gleichzeitig die unumkehrbare Manifestation endgültiger Trennung.

Mit all diesen Gefühlen und Eindrücken ist man letztlich alleingelassen. Die wertvolle Hilfe der Gemeinde und des Imam wirken bei nüchterner Betrachtung gehetzt. Es wird einem bewusst, dass es die Abarbeitung praktischer Notwendigkeiten sind, denen man in seinen intimsten und verletzlichsten Augenblicken letztlich ausgeliefert ist. 

Der Imam kennt den Verstorbenen nicht. Er ist nur an seinem Namen interessiert, um ihn kurz zu erwähnen, wenn er seine routinierten Gebete rezitiert. Gefühlt immer mit Blick auf die Uhr, weil die nächste Gebetszeit bevorsteht und er schnell wieder in die Moschee will, um seinen Dienst zu verrichten. 

Zeit bleibt ihm nur für ermahnende Worte an die Trauergemeinde, dass das muslimische Grabfeld optisch nicht den Kriterien entspricht, die er für angemessen hält. All diese Figuren, Bilder der Verstorbenen, Laternen, Kerzen, Blumen. All das sei unislamisch und tunlichst zu vermeiden. Nochmal herzliches Beileid und auf Wiedersehen.

Diese Erfahrung von Routine ermutigt einen nicht, im Anschluss das Gespräch zu suchen, um über seine Gefühle und Gedanken zu sprechen. Eine professionelle Sterbebegleitung oder Nachsorge mit Blick auf die Angehörigen gibt es nicht. Seelsorgerische Beratung und Begleitung bleibt häufig  dem Talent oder der Empfindsamkeit des jeweiligen Imam überlassen. 

Das tradierte Ritual der Beerdigung lässt keinen Raum für individuelles Erinnern, gar gemeinschaftliches Reden und Gedenken an die Verstorbenen. Was ihnen wichtig und lieb war, was ihnen Freude bereitet hat, an welche besonderen Momente man sich erinnert und welche Bereicherung sie für das eigene Leben bedeutet haben. All das bleibt unausgesprochen oder wird in die folgenden Tage des stillen Trauerns in den eigenen vier Wänden verlagert. Das Leben, das die Verstorbenen geführt haben, spielt im Augenblick des körperlichen Abschieds keine Rolle. Es bleibt unausgesprochen, unerwähnt.

Ich weiß nicht, ob das nur ganz eigene, ganz individuelle Erfahrungen sind. Wenn sie es nicht sind, wenn sich andere in diesen Erfahrungen wiedererkennen, müssen wir handeln und unsere gemeindliche Praxis ändern. Denn: „Die Kultur eines Volkes erkennt man daran, wie es mit seinen Toten umgeht“. (mk)