Mut zum Frieden

Religion ist Verantwortung. Religion macht verantwortlich. Der Islam in seiner religionspraktischen Ausprägung weist ein beständiges Gleichgewicht von Individualität und Kollektivität aus. Religiöse Praxis hat stets eine höchstpersönliche Dimension und gleichzeitig eine gemeinschaftliche Bedeutung.

Wir verrichten das Ritualgebet, um uns fünfmal am Tag in Demut und Ergebenheit vor unserem Schöpfer zu üben. Gleichzeitig vereint uns das Ritualgebet, wenn es in einer Moschee verrichtet wird, mit anderen Menschen zu einem gemeinschaftlichen Erlebnis.

Wir fasten und verspüren dabei eine sehr persönliche Veränderung. Wir erleben Verzicht, Genügsamkeit und Bescheidenheit. Wir spüren Dankbarkeit für Dinge, die uns im Alltag als selbstverständlich erscheinen. Gleichzeitig werden wir aufmerksamer für die Bedürftigkeit anderer Menschen und entdecken die Freude, die wir durch das Teilen materieller Dinge bei anderen und bei uns hervorrufen können. Wir werden uns dessen bewusst, dass uns Übermaß und Reichtum gleichzeitig auch eine Verantwortung für andere Menschen auferlegt.

Diese persönlichen und gemeinschaftlichen Bedingungen und Wirkungen unseres Lebens verstehen wir aus muslimischer Sicht als Prüfung. Dabei erinnert uns die Offenbarung Allahs daran, dass oftmals der Reichtum, die Kraft und Stärke, die wir uns zuschreiben, eine schwerere Prüfung sein können, als Not oder Schwäche. Und auch diese Prüfungen haben ganz persönliche und gemeinschaftliche Dimensionen.

In Zeiten von Krieg und Gewalt ermahnt uns der Koran zu Geduld und Zurückhaltung (vgl. Sure 2, Vers 177). Gerade kollektive Gewalt, der Krieg ganzer Völker und Länder, erzeugt durch die Entfesselung schier unbeherrschbarer Zerstörung eine unermessliche Gefahr für das Wohl des Einzelnen wie auch ganzer Gemeinschaften.

Der Koran lehrt uns, dass Gewalt unausweichlich sein kann, wenn man von existenziellem Unrecht, von unmittelbarer lebensbedrohender Gewalt betroffen ist. Gleichzeitig erinnert er uns daran, dass wer einen Menschen tötet, gleichsam die ganze Menschheit tötet (vgl. Sure 5, Vers 32). Also auch in Zeiten der Gewalt ermahnt uns die Offenbarung Allahs, nur in äußerster Not und existenzieller Gefahr zum Mittel der Gewalt zu greifen, wenn dies das einzige Mittel ist, um sich oder andere zu schützen. (vgl. Sure 22, Verse 39-40).

Der Koran ermahnt uns, selbst in solchen Zeiten Feinden keine Gewalt anzutun, wenn von ihnen keine lebensbedrohende Gewalt ausgeht. Unter uns Muslimen ist die Geschichte über Ali bekannt, dem Vetter des Propheten (s.a.s.). Dieser Ali verschont im Verlauf einer Schlacht seinen Feind, als dieser kurz vor dem Moment, in dem er von einem Hieb Alis erschlagen zu werden droht, Ali ins Gesicht spuckt. Nach der Schlacht befragt die Menge Ali, warum er denn den Feind verschont hat, zumal der ihn auch noch beleidigte. Ali erwidert, dass er ihn in jenem Augenblick aus Zorn über die erlittene tätliche Beleidigung erschlagen hätte und nicht, um sich oder andere Menschen zu schützen. Mit einem solchen Akt der Gewalt hätte er sich an der Schöpfung Allahs versündigt.

Wir Muslime sollten uns stets daran erinnern, dass das Leben eine Prüfung ist. Die vielen verheerenden Kriege der Vergangenheit und die auch heute weltweit unzählige Menschen in schlimmste Not und Verzweiflung stürzende Gewalt stehen uns als fortwährende und auch gegenwärtig präsente Mahnung vor Augen. Sie müssen uns daran erinnern, dass wir den Prüfungen des Lebens wohl nicht gerecht werden, wenn wir trotz dieser Erfahrungen wieder Krieg und Gewalt nicht verhindern können.

Wir dürfen deshalb Gewalt niemals als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln legitimieren. Wenn wir uns genötigt sehen, Gewalt auszuüben, müssen wir uns vielmehr die Frage stellen, wo und warum wir dabei versagt haben, Konflikte gewaltlos zu lösen.

Wir müssen uns deshalb im Angesicht von Krieg und Gewalt jeden Pathos, jede Euphorie, jeden Überschwang verbieten. Wir dürfen uns nicht an Stärke und Macht berauschen. Denn damit hätten wir bewiesen, dass wir diese schwere Prüfung nicht nur nicht bestanden, sondern schon nicht als solche erkannt haben.

Unsere Gebete müssen all jenen gelten, für die wir Allah darum bitten, dass sie zu ihren Familien zurückkehren, ohne an ihrem Leib und an ihrer Seele Schaden zu nehmen. Dass sie weder ihr Leben verlieren, noch das Leben eines anderen nehmen müssen.

In unseren Gebeten müssen wir Allah darum bitten, dass er uns und allen anderen die Augen dafür öffnet, dass Krieg und Gewalt keine Lösung sind. Dass er uns die Einsicht gibt, zu erkennen, dass unsere Interessen und Probleme niemals bedeutsamer sein können als das Leben, mit dem er uns beschenkt hat.

Wir beten zu Allah, dass er uns die Geduld und Kraft gibt, den islamischen Gruß als Maxime unseres täglichen Handelns leben zu können – mit dem wir jedem wünschen, dass Frieden mit ihm sei. (mk)