Der Verzicht nimmt nicht, der Verzicht gibt

Die Zeit verfliegt schnell. Man kann sich noch an die Nächte des letzten Ramadans erinnern, als ob es noch gestern war, aber schon stehen wir wieder an der Schwelle zum Fastenmonat. Jedes Jahr ist die Vorfreude groß bei uns Muslimen. Man bereitet sich vor auf diesen gesegneten Monat, sowohl geistig als auch körperlich. Man hat Vorfreude auf den Monat des Verzichts, weil – um es mit dem deutschen Philosophen Martin Heidegger zu sagen – „Der Verzicht nimmt nicht, der Verzicht gibt. Er gibt die unerschöpfliche Kraft des Einfachen.“

Der Fastenmonat Ramadan ist aber auch mehr als Fasten und Enthaltsamkeit. Unser Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte, dass Viele von ihrem Fasten nichts haben außer Hunger und nichts von ihren nächtlichen Gebeten außer Müdigkeit. Das Fasten gehe weit über den bloßen Verzicht auf Essen, Trinken und Sex hinaus. Vielmehr müssen wir uns vor allem bewahren, was uns von unserem Fasten ablenkt. In einem anderen Hadith sagt unser Prophet, dass jedem alle vergangenen falschen Handlungen vergeben werden, der den Ramadan mit Iman und dem Bewusstsein um die Belohnung dafür fastet.

Was den Fastenmonat Ramadan besonders macht, ist die Lailat al-Qadr, die Nacht, die besser ist als tausend Monate. In diesem Monat wird jede noch so kleine gute Tat um ein vielfaches höher belohnt, als außerhalb des Ramadan. Es ist der Monat der Geduld und des Großzügigen. Wenn jemand einem Fastenden etwas gibt, mit dem dieser sein Fasten brechen kann, dann bringt ihm dies die Vergebung der falschen Taten und die Entfernung aus dem Feuer ein und er wird die gleiche Belohnung haben wie derjenige, den er versorgt, ohne dass ihrer beider Belohnung sich verringern würde.

Das Fasten spielt in jeder spirituellen Tradition eine wichtige Rolle und ist eine Handlung, die den Menschen ausmacht. Denn jedes andere hungrige Geschöpf außer dem Menschen wird, wenn ihm Nahrung, welche es mag, angeboten wird, diese verzehren. Nur der Mensch ist durch einen Willensakt in der Lage, vom Essen in einer solchen Lage abzusehen. Dies macht es zu einer besonderen Handlung der Anbetung, die von Allah, wenn sie um Seiner Willen vollzogen wird, sehr hoch belohnt wird. Wir Muslime betonen immer, dass das Fasten auch viele nützliche Seiten hat, dass es auch der Gesundheit nützt. Gerade wenn wir versuchen unseren nichtmuslimischen Freunden und Bekannten den Ramadan zu erklären, betonen wir zwar den gesundheitlichen Aspekt des Fastens, vergessen aber dabei die eigentliche Bedeutung des Fastens zu vermitteln. Der eigentliche Nutzen des Nicht-Essens und des Nicht-Trinkens liegt darin, dass wir durch diese spirituelle Praxis unser niederes Selbst, die Nafs, zügeln. Durch diese spirituelle Praxis verändert sich im Monat Ramadan unsere Wahrnehmung. Wir nehmen die Dinge intensiver wahr, setzen andere Prioritäten und sind nicht getrieben durch die übliche Hektik unseres ansonsten durchgetakteten Alltags.

Der Gesandte Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte in einem Hadith Qudsi: „Jede gute Handlung des Sohnes von Adam wird ums siebenhundertfache vervielfacht. Allah sagt: ‚Außer dem Fasten. Es ist mein und Ich belohne es Selbst. Der Fastende verlässt das Essen und Trinken um Meinetwillen.’ Der Fastende hat zwei Freuden: Freude, wenn er sein Fasten bricht und Freude, wenn er seinem Herrn begegnet.“

Der Monat Ramadan unterscheidet sich qualitativ von jeder anderen Zeit. Dies ist unabhängig vom Fasten, denn es ist nicht das Fasten, welches den Ramadan unterscheidet, es ist eher, weil Allah das Fasten in diesem Monat verpflichtend gemacht hat, so dass wir den maximalen Nutzen von seiner Besonderheit als Monat ziehen können. Allah hat ihn zum Schauplatz eines großen Geheimnisses gemacht – die Nacht, die besser ist als tausend Monate – und aus diesem Grund wählte der Prophet diesen Monat vor Beginn seiner Prophetenschaft als Zeit des Rückzuges aus. In der Nacht, die wertvoller als tausend Monate ist, begann die Offenbarung des Koran. Der englische Gelehrte Shaykh Abdalhaq Bewley betont, dass viele Korankommentatoren darauf hingewiesen haben, das tausend Monate mehr oder weniger die Lebensspanne eines Menschen, das heisst die Erfahrung der gesamten Zeit, die jedem von uns zur Verfügung steht, ausmache. In der Beschreibung der Lailat al-Qadr im Qur’an wird hingewiesen, dass dieser Moment außerhalb der Zeit liegt. Die Gelehrten beschreiben diese Nacht als einen Augenblick in jedem Jahr, wenn sich für uns ein Fenster zur Zeitlosigkeit öffnet, wenn wir auf eine unmittelbare Weise Zugang zur Anwesenheit Allahs haben.

Der Ramadan ist ein Monat, in dem die Tore des Gartens offen sind, und der Teufel in Ketten gelegt ist, so dass er uns nicht von guten Taten abhalten kann. Es ist ein Monat der Erleichterung und Freiheit. Jedoch ist es auch ein Monat, in dem die Zeit besonders wertvoll ist. Das bringt somit eine Last mit sich, weil wir es uns nicht erlauben können, im Ramadan unsere Zeit mit Belanglosigkeiten zu verschwenden. Denn bevor der Monat beginnt, scheint der gesamte Ramadan sich weit vor uns auszubreiten. Wir denken, dass wir viel Zeit haben, schieben wichtige Dinge vor uns her, reden uns ein, dass die letzten 10 Tage noch wichtiger sind. Je näher aber das Ende des Monats Ramadan rückt, desto mehr werden wir uns bewusst, dass wir unsere Zeit in diesem gesegneten Monat doch lieber besser genutzt hätten. (eg)