Wer Gewalt in die Welt trägt, kann nicht auf Frieden im Jenseits hoffen

Islamismus. Islamischer Extremismus. Radikaler Islam. Die Gewalttaten, die in den letzten Jahren von Tätern begangen wurden, die sich auf den Islam berufen, haben unserer Religion eine schwere Hypothek auferlegt. Viele Muslime, die aus einer zutiefst religiösen Überzeugung heraus, aus ihrem fest verankerten Islamverständnis heraus diese Gewalt- und Mordtaten ablehnen, sehen sich zur Rechtfertigung ihres Glaubens gezwungen.

Dieser menschenverachtende Terror hat dazu geführt, dass der Islam gemeinhin als aggressive, intolerante und todessehnsüchtige Religion wahrgenommen wird. Er führt zu Aussagen von Tätern, die sinnbildlich für die vermeintliche Natur des Islam geworden sind: „Ihr liebt das Leben, wir aber lieben den Tod.“ Keine Aussage könnte falscher sein, um den Islam zu beschreiben.

Im Lichte der islamischen Offenbarung ist das diesseitige Leben ein Transitraum, aber keineswegs ein Warteraum. Der Islam dient nicht zur Loslösung einer Weltbindung des Menschen in dem Sinne, dass es sich für den Menschen nicht mehr lohnt, am hiesigen Elend noch etwas zu ändern.

Das irdische Leben ist aus islamischer Sicht in dem Sinne ein Transitraum, als seine Endlichkeit ersichtlich ist: Der Mensch weiß um seine Vergänglichkeit und die Begrenztheit seiner irdischen Existenz. (Sure 29, Vers 57)

Gott erwartet von ihm aber nicht, dass er diese Zeit untätig oder nur im religiösen Ritus verbringt. Gott erwartet eine tätige Frömmigkeit, den Einsatz für seinen Nächsten, die Rechtschaffenheit im Diesseits, das Wetteifern um die guten Taten. (Sure 3, Vers 114)

Das irdische Leben ist nicht Trugbild oder Last. Es gilt für den Menschen nicht, auf die Annahme durch Gott zu hoffen, indem er sein irdisches Leben abkürzt, seine Wartezeit durch ein Fanal beendet. Wer so denkt und glaubt, irrt. Wer so denkt und glaubt, hat nicht verstanden, dass das irdische Leben eine Prüfung bereithält, der er sich nicht entziehen darf. (Sure 2, Vers 155)

Bei vielen Tätern, die Terroranschläge verüben, handelt es sich um Menschen, die eine kriminelle Laufbahn hinter sich haben und dem Irrglauben anhängen, durch eine Mordtat nun das Gefallen Gottes zu erlangen. Sie scheinen für sich einen Ausweg aus einem Leben gefunden zu haben, das sie in seinem bisherigen Verlauf bereuen oder mit dem sie unzufrieden sind. Aber sich gottähnliche Kompetenz anzumaßen und willkürlich über das Leben anderer Menschen zu richten, ist kein Weg, der zu Gott führt. Eine solche Erlösung von weltlicher Unzufriedenheit gibt es nicht. Auf solche Täter wartet kein besseres jenseitiges Leben. Ein solches Denken und Glauben ist zutiefst unislamisch. Warum?

Weil Gott Adam mit einer ganz besonderen, einer exklusiven Eigenschaft erschaffen hat – nämlich mit der Fähigkeit zum Ungehorsam gegenüber Gott. Der Ungehorsam, der Zweifel, sind also Eigenschaften, die den Menschen gerade auszeichnen.

Mit diesen Eigenschaften wird Adam auf die Erde herabgesandt – aber auch mit einer Zuversicht, ja mit einem Urvertrauen Gottes. Dass nämlich Adam trotz dieser Möglichkeit der Auflehnung, trotz der Distanz zu Gott, trotz der Entfremdung von Gott, sich ihm zuwenden wird. Es ist diese höchstpersönliche Ergebenheit in Gott, die die Bedeutung des Islam ausmacht.

Der Wert dieser Zuwendung wird gerade in der irdischen Existenz des Menschen deutlich. Nicht in der jenseitigen Nähe zu Gott hat die Zuwendung einen Wert. Sie wird erst dann wertvoll und bedeutsam, wenn der Mensch trotz seines Zweifels, seiner Schwächen und Fehlbarkeiten, trotz seiner Distanz und Entfremdung, trotz seines Unvermögens Gott unmittelbar zu erkennen, sich während seiner irdischen Existenz um diese Zuwendung, um diese Ergebenheit in Gott bemüht.

Das Diesseits ist nach islamischem Verständnis ein Raum der Prüfung und der Bewährung. Selbst nach einem beschwerlichen Weg der Suche nach Gott betet der Muslim: „Lass mich zurückkehren in den Kreis deiner Diener.“ Das Erreichen einer Gottesgewissheit reicht also nicht aus. Der nächste Schritt ist die geistige Rückkehr von Gott zu den Menschen zurück und der tatsächliche Einsatz zum Wohle aller Menschen.

Diese Prüfung beinhaltet für Muslime in unserer heutigen Zeit auch die Zumutung – manchmal sogar die Kränkung – durch Relativierung oder durch Kritik des Glaubens oder durch die Existenz des Unglaubens.

Aber auch für diese Erfahrung empfiehlt der Islam nicht die Beseitigung des Zweifels oder des Zweiflers – sondern Gelassenheit. (Sure 109)

Der Furor, den Extremisten buchstäblich auf Knopfdruck zu entfalten bereit sind, deckt sich nicht mit dem, was für jeden Muslim als Inhalt seiner religiösen Überzeugung im Angesicht der Anfeindung selbstverständlich sein sollte: Vergebung, die Erwiderung mit einer guten Tat und im schlimmsten Fall allenfalls Gleichgültigkeit. Gott beschreibt das in seiner Offenbarung mit den Worten: „Wir haben dich nicht als Wächter über sie gesandt; Dir obliegt nur die Ausrichtung der Botschaft“. (Sure 42, Vers  48)

Die Religion ist, wenn wir unseren Glauben ernst nehmen, eben nicht bloß eine kulturelle Erfindung des Menschen, mit der seine Suchbewegung von der Horizontalen in die Vertikale gelenkt wird. Im Islam offenbart uns Gott, dass die Suche nach ihm unbedingt auch davon abhängt, was wir in der Horizontalen, in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen zu tun bereit sind. Wer in dieser Ebene anderen nur Gewalt, Vernichtung und Leid zufügt, kann für sich im Jenseits nicht auf etwas Besseres hoffen.

Der islamische Weg zu Gott führt für den Menschen zwingend über den Einsatz für seinen Nächsten. Wenn ihm also bewusst wird, dass ein jeder von uns, gleich welchen Glaubens oder Nichtglaubens, gleich welcher Herkunft, die selbe Gotteszugewandtheit in sich trägt.

Die Vielfalt menschlicher Existenz, die kulturelle und auch religiöse Vielfalt sind – und hier spiegelt sich die Herausforderung Adams wider – Momente der Entfremdung und der Distanz. Aber sie sind notwendig und gottgewollt. So wie es Adam und dann später Abraham gelingt, über die Distanz der irdischen Existenz und über die Fehlbarkeit und Eingeschränktheit ihrer Sinne hinweg doch Gottes Wirken in der Welt zu erkennen, also diese Trennung und Entfremdung von Gott zu überwinden, so ist es die Herausforderung des Menschen auf der Suche nach Gott die Entfremdung von seinen Mitmenschen zu überwinden, um den gleichen Ursprung zu entdecken – wie es der Koran sagt „um voneinander zu lernen“.(Sure 49, Vers 13)

Der Versuch unserer weltlichen Rechtsordnung, die Menschenwürde als universelles Tabu in einer säkularen Welt zu verankern, zeugt von dieser Ahnung des Menschen, dass es etwas Einendes, etwas Gemeinsames gibt – über alle Unterschiede hinweg.

Die andauernde vermeintlich religiös legitimierte Gewalt aber auch der Versuch, die eigene Identität durch Ausgrenzung und Verbote des Fremden zu bestätigen – und das passiert offensichtlich in jeder Gesellschaft – zeigt uns, dass die Suche des Menschen und seine Herausforderungen noch nicht beendet sind.

Es geht darum, den „rechten Weg“ zu finden, einen sehr realen, sehr beschwerlichen, steilen und steinigen Pfad zu beschreiten. Dieser Pfad steigert sich zuweilen bis hin zu einem Steilhang, den es zu erklimmen gilt. Diesen Weg werden wir nicht allein bewältigen. Wir müssen uns absichern, brauchen Hilfe und Unterstützung. Wir brauchen die Kraft, den Wagemut, die Kreativität, die Ausrüstung und den Einfallsreichtum unterschiedlichster Wegbegleiter.

Dabei reicht es nicht, wenn wir uns nur treiben lassen, in der Menge mitgehen oder gar erwarten, dass man uns trägt. Denn die anderen verlassen sich auf uns und unseren Beitrag, so wie wir auch auf deren Hilfe hoffen. Wohin der Weg führt? Wir wissen es nicht genau. Dort hinten ist der Horizont auf den wir zugehen. Was dahinter liegt, weiß nur Gott.

Aber eines ist sicher: Auf dem Weg dorthin werden wir uns besser kennenlernen. (mk)