Und geheiligt sei nicht die Nation

Muslime mit einem Migrationshintergrund aus Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung sind diesem Phänomen sicherlich schon begegnet. Ein religiös unterlegter Nationalismus, der das Islamverständnis in den Ländern eng umschlungen hat. Der Islam scheint gemäß dem nationalistischen Verständnis ohne Nation nicht zu funktionieren, das Dasein als authentischer Muslim nur in einer türkischen, arabischen, marrokanischen oder bosnischen Prägung möglich zu sein.

Und selbst hier in Deutschland treffen wir auf identitäre Vertreter dieser Haltung: Ein guter Muslim kann nur der sein, der sich seines Türken-, Araber- oder Bosniertums bewusst ist und dies bewahren kann. Die Religion wird zu einer nationalen Sache, die unbedingt mit der Herkunftsnation verknüpft werden muss.

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Die Illusion von Macht

Unsere Gegenwart ist geprägt von der Faszination, die unsere Möglichkeiten uns vermitteln. In dem Ausmaß, in welchem wir das Spirituelle, das buchstäblich Unbegreifbare, das Nichtkörperliche, das Transzendente aus unserem Leben und unserer unmittelbaren Orientierung verdrängt haben, in dem Maße hat das Körperliche, das Materielle, die Anhäufung des Konkreten Bedeutung für und in unserem Leben eingenommen.

Wir haben uns von der Vorstellung entfernt, dass die Belohnung im Jenseits uns in der Gestalt des Überflusses an Erkenntnis und Wissen versprochen wird. Sinnbildlich spricht der Koran von der Quelle Kevser, aus der wir unendliche Male werden schöpfen dürfen. Das Bild des auch dann nicht wirklich greifbaren, des fluiden und verrinnenden Wassers ist uns zu einer Zumutung geworden.

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Wessen Furcht muss von uns ernstgenommen werden und über wessen Furcht dürfen wir lachen?

Ein Gastbeitrag von Patrick Isa Brooks

O Herr, meine Seele ist betrübt bis an den Tod! Es drängt mich, Dir mein Leid zu klagen. Die weltweite Pandemie, mit der wir geprüft werden, hat uns alle ärmer gemacht. Sie hat Existenzen zerstört und Träume vernichtet, Ängste erzeugt und in die Einsamkeit geführt. Unzählige Menschen haben wir zu Grabe tragen müssen; auch solche, die nicht „sowieso“ gestorben wären. Viele von ihnen fielen der Krankheit zum Opfer, weitere den Nebenwirkungen der Impfung. Wieder andere starben aufgrund von häuslicher Gewalt oder nahmen sich in ihrer Verzweiflung selbst das Leben. Die Bilder von den Intensivstationen und Krematorien haben sich tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt, Todesstatistiken und Inzidenzbarometer sind zu unserem traurigen Alltag geworden. O Herr, jeder Todesfall ist einer zu viel, und doch stelle ich bestürzt fest, dass wir nicht allen Verstorbenen die gleiche Aufmerksamkeit schenken. Der Corona-Opfer gedenken wir zurecht mit einem Staatsakt und halten ihren Angehörigen tröstend Hand und Schulter hin. Über die Impftoten hingegen sowie über Totschlags- und Selbstmordzahlen im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen sprechen wir nicht. Wir betrachten sie eher als Makel, als unerwünschten Fehler im System, der den Erfolg unserer eiligen Impfkampagne bloß trüben, ja unseren gesellschaftlichen Aktionismus infrage stellen könnte. Jene Verstorbenen sind aber mehr als Kollateralschäden: Auch sie waren Menschen, die Angehörige hinterlassen haben. Auch ihrem Tod gilt es Rechnung zu tragen, auch ihre Lieben müssen wir als Gesellschaft trösten und versorgen! Hilf uns, dieses Leid ebenso anzuerkennen! Hilf uns, dafür empfänglich sein! Bitte lass es uns nicht egal sein!

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Aufrichtigkeit ist keine Teilzeitbeschäftigung

„Sprecht: Wir glauben an Gott und an das, was zu uns herabgesandt wurde, und an das, was herabgesandt wurde zu Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und den Stämmen, und an das, was Mose und Jesus zugekommen ist, und an das, was den anderen Propheten von ihrem Herrn zugekommen ist. Wir machen bei keinem von ihnen einen Unterschied. Und wir sind Ihm ergeben.“ So steht es in Sure 2, Vers 136 des Koran.

Der letzte Satz dieses Verses lautet im arabischen Original „wa nahnu lahu muslimun“. Das heißt, die aufrichtige Haltung, Gott gegenüber ergeben zu sein, sich mit seinem Antlitz Gott zugewandt zu haben, wird als „muslimun“, also als „muslimische“ Eigenschaft beschrieben. Muslimische Frömmigkeit wird somit als eine authentische, eine aufrichtige und wahrhaftig empfundene Ergebenheit beschrieben, die sich in der Haltung des Menschen, in seinem Wesen und seinem Verhalten, manifestiert.

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Die Angst vor Veränderung

Ein Gastbeitrag von Dr. Ali Ghandour

Eines der Prinzipien, das  der Welt innewohnt, ist der Wandel. Die Veränderung betrifft alle Formen und Erscheinungen des Seins. Im Koran lesen wir: „Alles ist vergänglich außer Seiner Wirklichkeit“ (28:88). Nach dem osmanischen Gelehrten Karabaş Veli (gest. 1686) ist die Vergänglichkeit kein Ereignis, das zu einem späteren Zeitpunkt eintritt, sondern ein dauerhafter Zustand von allem außer Allah. Wir sind die Vergänglichkeit.

Allah, erhaben ist Er, zeigt sich selber in dieser Vergänglichkeit, denn Er nimmt die Formen der Welt an, durch welche Er sich fortdauernd zeigt. Dazu sagt Allah über sich selbst im Koran, wenn wir die Stelle 55:29 wortwörtlich nehmen: „Jede Zeit ist Er in einem Zustand (fi-scha’n)“. Die ständige Veränderung und die Flüssigkeit von allen Formen führen unmittelbar dazu, dass wir Menschen auch diesem Wandel unterliegen. 

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Ihr werdet, was wir sind

Aus dem antiken Rom ist bekannt, dass während der Siegeszüge erfolgreicher Feldherren, diese von einem Sklaven begleitet wurden, der in ständiger Wiederholung folgende Worte sprach:

„Memento mori.

Memento te hominem esse.

Respice post te, hominem te esse memento.“

„Bedenke, dass du sterben wirst.

Bedenke, dass du ein Mensch bist.

Sieh dich um und bedenke, dass auch du nur ein Mensch bist.“

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Woran glauben wir?

In unseren muslimischen Gemeinschaften gibt es eine Redewendung, ein Zitat, welches häufig verwendet wird, wenn man aus einer vermeintlich sehr frommen, sehr religiösen Haltung heraus andere ermahnen will: „Wer nicht danach lebt, was er glaubt, wird anfangen, so zu glauben, wie er lebt.“ Das heißt, eine vermeintlich nach außen hin wenig an rituellen Praktiken und religiösen Geboten und Verboten orientierte Lebensweise führe über kurz oder lang zu einem schwächeren Glauben, ja sogar zum Glaubensverlust.
Das ist eine sehr selbstgefällige und selbstgerechte Meinung von Menschen, die sich grundsätzlich als Glaubensgeschwister begegnen wollen. Und es ist eine unaufrichtige Haltung. Denn sie weicht der Frage aus, woran wir Muslime glauben. In den letzten 20 Jahren der Islamdebatte in Deutschland erinnere ich mich an keinen Moment, in dem muslimische Stimmen in der Öffentlichkeit erklärt hätten, woran wir Muslime eigentlich glauben.

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Der Tanz um das goldene Ich

Der Mensch neigt dazu, sich abzugrenzen. Es ist aber mehr als ein Revierinstinkt, der bei vielen Geschöpfen in der Natur zu beobachten ist. Es geht dabei weniger um die Markierung eines Territoriums, welches durch Inbesitznahme und Verteidigung gegenüber Konkurrenten den eigenen Fortbestand sichern soll. Gleichwohl wir in dieser Beschreibung durchaus auch die zerstörerischen Ideologien um kollektiven „Lebensraum“ erkennen können, ist hier ein anderes Phänomen gemeint.

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In Ehrfurcht erbebende Herzen

Der Glauben, der Iman an den einen Gott, er ist nichts Statisches, nicht einfach nur ein Zustand. Er bewegt den Menschen, beeinflusst und zeigt sich im Handeln des Einzelnen. Der Glaube nimmt Einfluss auf die Handlung, aber die Handlung prägt auch den Glauben. Immer wieder wird im Koran der Iman zusammen mit den Taten angeführt, für die der Glauben sorgt, zu denen er die Gläubigen führt.

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DER LÖWE, DER SICH SELBST ANGRIFF

Es vergeht wohl kaum ein Tag, ohne dass wir uns über einen anderen Menschen aufregen. Sei es zu Hause, in der Familie, im Straßenverkehr, an der Kasse im Supermarkt oder auch in den sozialen Medien, immer wieder gibt es Situationen, in denen wir Anstoß nehmen am Verhalten unserer Mitmenschen. Wir entrüsten uns dann über die Ignoranz dieser Leute, über ihre Rücksichtslosigkeit, über ihre Eitelkeit und ihre mangelnde Einsicht. Zuweilen prangern wir sie sogar öffentlich an, indem wir unseresgleichen auf diese Fehlverhalten aufmerksam machen und Bestätigung für unsere Erregtheit suchen.

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