EIN ZIMMER ZU WENIG…

„Ganz gleich, wen ich frage“, schrieb einmal der türkische Dichter Özdemir Asaf (1923-1981), „jeder ist der Ansicht, dass sein Haus ein Zimmer zu wenig habe“.

Nehmen wir diese Aussage doch zum Anlass und horchen kurz in uns hinein. Verfallen nicht auch wir hin und wieder diesem Glauben? Dem Glauben nämlich, dass für das finale Glück in unserem Leben eine größere Wohnung, mehr Geld, ein teureres Auto, das neuste Smartphone, dieser oder jener Gegenstand fehle? Ist es nicht so, dass wir bereits von Kindesbeinen an lernen, Glück und eine höhere Lebensqualität seien vor allem durch mehr Besitz zu erlangen?

Nichts anderes gaukelt uns schließlich die Werbung vor, der wir tagtäglich ausgesetzt sind. Ein richtiges und gutes Leben ist demnach nur durch den Erwerb bestimmter Güter möglich. „Wohnst du noch oder lebst du schon?“ dröhnt es uns etwa vorwurfsvoll und gefühlt an jeder Straßenecke entgegen. „Entdecke das Leben“, werden wir andernorts aufgefordert. Eine Parfümeriekette verheißt uns ein „schöneres“, ein Jeanshersteller ein „erfolgreiches“ Leben. Die Botschaft ist klar: sich mehr Besitz anzueignen – wichtiger noch: mehr zu haben als andere –, erhöht augenscheinlich unseren Wert. Das Aufkommen immer neuer Bedürfnisse und ein uferloser Konsum sind die Folge.

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Ein toxisches Religionsverständnis

Woran glauben wir? Und wozu glauben wir? Es ist von unschätzbarem Wert, sich diese Fragen immer und immer wieder zu stellen und nie anzunehmen, wir hätten sie endgültig beantwortet. Bei unserer Suche nach Antworten auf diese Fragen müssen wir uns bewusst machen, dass es einen Unterschied zwischen uns und dem Bezug unseres Glaubens gibt. Gott ist vollkommen – wir sind es nicht. Im Koran gibt es keinen Widerspruch oder Zweifel – aber wir sind voller Widersprüche und Zweifel. Gott ist die Wahrheit – aber ebenso, wie wir Gott nicht unmittelbar erfassen können, könne wir nicht beanspruchen, eine absolute Wahrheit erkannt und verstanden zu haben.

„Dies, weil Gott die Wahrheit ist“, heißt es im Koran (22, 62). Wenn also Gott die Wahrheit ist, kann die Wahrheit unseres irdischen Glaubens für uns nur so unbegreiflich wie er selbst sein. Was unsere Wahrheit des Glaubens ist, entzieht sich damit unserem Verständnis, wie auch Gott für uns rational letztlich unfassbar bleibt.

Für uns Muslime muss deshalb die Bescheidenheit im Glauben eine Grundtugend sein. Wir wissen nicht, nur Gott weiß. Wir dürfen niemals davon überzeugt sein, eine absolute Wahrheit erkannt und verstanden zu haben. Wir dürfen deshalb niemals unsere Überzeugungen anderen Menschen als vollkommene Wahrheit aufzwingen. Wo wir in der Gewissheit einer vollkommen durchdrungenen Wahrheit handeln, betreten wir einen Irrweg, der uns und andere ins Verderben führt.

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Unsere Realität ist Satire

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Serdar Kurnaz

Ich nehme an, die meisten von Ihnen haben den neuen Film von Adam McKay gesehen: „Don’t Look Up“ Für diejenigen, die ihn noch nicht gesehen haben: Es ist eine schwarze Komödie über den Weltuntergang. Ein Komet rast auf die Erde zu und die Menschen teilen sich in drei Gruppen auf: Die einen streben immer noch nach Macht und Profit, die anderen wollen den Weltuntergang verhindern und eine dritte Gruppe sagt, es gibt gar keine Covid-Pandemie – oh, Entschuldigung; ich meine natürlich, es gibt keinen Kometen. Der Film war noch in der ersten Sendewoche auf Netflix – Startschuss war Heiligabend 2021 – auf Platz 1 in Deutschland. Ich habe ihn auch gesehen; er ist amüsant, absurd. Grundsätzlich gehen Filmkritiker:innen davon aus, dass wenn Anspielungen in einem Film einfach und klar zu verstehen sind, der Film relativ schlecht ist. „Don’t Look Up“ ist in jeder seiner Anspielungen klar; jede*r, der*die an Weltgeschichte und –politik ein wenig interessiert ist, erkennt die Anspielungen sofort. Wider Erwarten liegt eben darin die Stärke des Films, und genau das ist es, was mir seit Jahren Kopfschmerzen bereitet: Unsere Realität selbst ist Satire geworden.

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Silvesterparanoia

Auch dieses Jahr wäre es zum Ende des kalendarischen Jahres eine Gelegenheit gewesen, aus muslimischer Sicht auf die zurückliegenden Monate zu Blicken, die vergangenen Ereignisse aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive zu kommentieren und die kollektiven Hoffnungen für das bevorstehende Jahr für alle Menschen in diesem Land positiv zu formulieren.

Viele Muslime tun das sicher auch. Aber mindestens ebenso viele, allen voran innerhalb unserer organisierten Strukturen der muslimischen Gemeinschaften, sind mit etwas anderem beschäftigt. Dort entfaltet sich eine besondere Form der Kreativität, die auf verschiedenen Ebenen offenbart, wie es um die muslimische Seele vielfach bestellt ist.

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Alle Jahre wieder…

Weihnachtszeit. Jedes Jahr wiederholen sich die Rituale anlässlich dieses Festes. Unter Muslimen schwelen innere Spannungen zwischen emphatischer Freude, der Suche nach den islamischen Quellen, welche die Geburt Jesu schildern, aber auch einer verstörenden Ablehnung, christlichen Mitbürgern auch nur frohe Weihnachten zu wünschen.

Letzteres ist häufig der Ausdruck einer eigenen Unsicherheit im Glauben. Wenn sich Frömmigkeit ihrer Festigkeit dadurch vergewissern muss, andere Glaubensüberzeugungen fundamental abzulehnen und ihre Präsenz nicht als Wert einer vielfältigen Gesellschaft zu schätzen, führt das zu einer Einfältigkeit im eigenen Glauben und erstickt unsere Möglichkeiten, einander achtsam zu begegnen – und Freude an der Freude des anderen nachzuempfinden.

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Gott gibt es nicht

Eines der zentralen Themen unseres Glaubens ist die Frage nach der Natur, nach der Existenz Gottes. Oftmals wird diese Thematik in die Sphäre des Akademischen, des Theoretischen verschoben. Eine Befassung mit den vielen Ansichten und Meinungen zu dieser Frage findet in der alltäglichen Glaubenspraxis unserer Gemeinden kaum statt. Dort und auch in der höchstpersönlichen Glaubenswirklichkeit unseres Alltages finden wir vielmehr das wieder, was den Raum der ausbleibenden Befassung mit diesem Thema ausfüllt – eine stetig zunehmende Personalisierung und Instrumentalisierung Gottes: 

Häufig hören wir in Predigten oder Ansprachen gegenüber der Gemeinde Formulierungen wie: „Das sind nicht meine Worte, das sind die Worte Gottes!“ Oder „Das verlangt Gott von euch!“ Oder „Gott will, dass ihr …“

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Muslimische Impfpflicht

Unsere Gemeinschaften werden nicht müde, immerfort über die Äußerlichkeiten muslimischen Daseins zu sinnieren und zu streiten. Wie man als Mann oder Frau auszusehen hat, wie der Bart des muslimischen Mannes aussehen sollte, ob und wie die muslimische Frau ihren Kopf zu bedecken hat.

Über solche Fragen der äußeren Erscheinung muslimischen Lebens diskutieren wir Muslime mit einer Leidenschaft, die viele von uns an die Grenzen der Bereitschaft führt, andere Muslime aufgrund ihrer abweichenden Meinung zu Ungläubigen zu erklären. Manchen führt sie auch über diese Grenzen hinaus.

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Meinungsvielfalt nur wenn es uns passt?

Die nicht enden wollenden Debatten über die islamische Glaubenspraxis und Muslime geht nicht spurlos an uns Muslimen vorbei. Wie sollte dies auch, denn natürlich berührt uns Muslime die Infragestellung unserer Glaubensgrundlagen. Im sogenannten Islamdiskurs haben wir es nicht selten mit Panikmachern zu tun, die unsere Glaubenspraxis und Glaubensinhalte als feindliche Ideologie darstellen wollen. Wir Muslime weisen dann aus Reflex auf Andalusien, den indischen Subkontinent oder andere wichtige historische Kapitel hin, in denen Muslime Hochkulturen geschaffen haben, die einen wichtigen Beitrag für Wissenschaft, Philosophie und Kunst geleistet haben.

Ambiguitätstoleranz ist dabei ein gern verwendeter Begriff von uns Muslimen, um darauf hinzuweisen, dass Muslime in ihrer Geschichte andersdenkende Menschen und Andersgläubige respektiert und ihnen Freiheiten garantiert haben. So berechtigt die Zurückweisung der Panikmacher, die aus dem Islam eine Ideologie machen wollen, sein mag, müssen wir Muslime auch aufrichtig sein. Inwiefern spiegelt der inflationäre Gebrauch des Begriffs Ambiguitätstoleranz unseren Zustand im Hier und Heute wieder? Man kann aus der Geschichte der Muslime in Andalusien oder anderen wichtigen Zentren der islamischen Gelehrsamkeit sehr viel lernen und Lehren für unsere Gegenwart ziehen, ohne Zweifel.

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Niemandes Richter

Niemand ist ein besserer Mensch, nur weil er ein Muslim ist. Wiederholen wir diesen Satz, damit er sich uns unausweichlich aufdrängt: Niemand ist ein besserer Mensch, nur weil er ein Muslim ist. Versuchen wir, diesen Satz auf all seinen Bedeutungsebenen zu verstehen und zu akzeptieren: Niemand ist ein besserer Mensch, nur weil er ein Muslim ist. 

Natürlich gilt dieser Satz auch in seiner umgekehrten Aussage: Niemand ist ein schlechterer Mensch, nur weil er kein Muslim ist. Auch in dieser Form verkörpert dieser Satz eine wichtige Erkenntnis, die wir uns nicht häufig genug bewusst machen können: Niemand ist ein schlechterer Mensch, nur weil er kein Muslim ist. 

Die Wiederholung dieses Satzes in beiden seiner Bedeutungsformen, ist von großer Dringlichkeit. Denn unsere Glaubenspraxis, unsere Glaubenstraditionen und die Art und Weise, wie wir Elemente unseres Glaubens leben und weitergeben, haben in vielen Facetten eine Gestalt angenommen, die das Gegenteil dieses Satzes verkörpert – und das tut uns nicht gut. Wir verzerren damit ganz wesentliche Kernaussagen unseres Glaubens und verbiegen ihn, bis er sich unserem Wohlbefinden anpasst und uns in unserer Selbstgewissheit nicht mehr stört.

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Infāq: Spenden auf dem Wege Allahs

Ein Gastbeitrag von Akif Şahin

Im Islam fassen wir gute Tugenden und Charaktereigenschaften als “guter Ahlaq” zusammen. Zu diesen Tugenden gehören auch bestimmte Akte und Wohltaten für andere. Muslim*innen sind dazu angehalten, sich solidarisch zu zeigen und ihr Umfeld zu unterstützen. Als ein besonderes Charakterzeichen guter Muslim*innen gilt beispielsweise, dass sie großzügig und spendabel sind. Dabei geht es nicht um Verschwendung, sondern um Unterstützung anderer und insbesondere bedürftiger Personen.

Infāq, das Spenden auf dem Wege Allahs (swt), ist daher ein sehr wichtiges und sensibles Thema, das sowohl den Glauben als auch den Alltag betrifft. Muslim*innen müssen und sollten sich damit früh genug befassen, damit sie es später nicht so schwer haben, Solidarität mit bedürftigen Menschen und der Gesamtgesellschaft zu zeigen. Vor allem das Teilen und Spenden aus dem persönlichen Besitz und Vermögen stehen hierbei im Vordergrund.

Infāq beschreibt als religiöser Begriff, das Spenden vom eigenen Vermögen für arme und bedürftige Menschen. Das Spenden erfolgt auf dem Wege Allahs (swt) und die Absicht der Spendenden ist es Allahs (swt) Wohlgefallen zu erlangen. Infāq umfasst aus dieser Sicht sowohl die Pflichtabgabe Zakat als auch jede andere gute Tat, die aus freiem Willen erfolgt und in der das Spenden, Teilen, aber auch Opfern im Vordergrund steht.

Aus islamischer Sicht ist der wahre Besitzer aller Dinge Allah (swt). Reichtum ist etwas, das uns von Allah (swt) anvertraut und zur Verfügung gestellt wurde. Deshalb ist es notwendig, andere an diesem Reichtum teilhaben zu lassen. Nur dadurch kann ein gesellschaftlicher Ausgleich stattfinden. So stellt Infāq eine Form der gesellschaftlichen Umverteilung von Vermögen und Besitz dar.

„Glaubt an Allah und Seinen Gesandten und spendet von dem, was Er euch zur Verfügung gestellt hat. Denn denjenigen von euch, welche glauben und spenden, ist großer Lohn bestimmt.“
– (Koran, 57:7)

Im Koran wird darauf hingewiesen, dass die armen und bedürftigen Menschen ein Anrecht am Besitz und Wohlstand der Reichen haben. Die Bedeutung des Infāq stellt sich in der Idee dar, etwas Gutes tun zu wollen und dafür einen Entschluss (niyya) zu fassen. Eine Form von absoluter Solidarität mit den Bedürftigen ist der Kerngedanke des Infāq. Die Spende, das Teilen oder Opfern erfolgt dabei immer vom eigenen Vermögen bzw. Besitz.

„Und von ihrem Vermögen war ein Teil für den Bittenden und den verschämten Armen.“
– (Koran, 51:19)

„Und von deren Vermögen ein Teil für den Bittenden und den verschämten Armen bestimmt ist,“
– Koran, (70:24-25)

Im Koran wird der Begriff Infāq in mehreren Versen verwendet. Oftmals wird der Begriff als „spenden“ oder „ausgeben“ verwendet. Solche Formulierungen finden sich in etwa 70 Stellen im Koran wieder. Interessant für das Verständnis des Infāq ist besonders der zweite Vers der Sura al Baqara.

„Die da glauben an das Verborgene und das Gebet verrichten und von Unserer Gabe spenden:“
– Koran, (2:3)

Infāq (hier als „spenden“ übersetzt) wird nach dem Glauben und dem Gebet im Islam erwähnt. So wird die Stellung dieser wichtigen gottesdienstlichen Handlung innerhalb des Islam deutlich gemacht. Infāq ist also ein Teil der islamischen Verhaltens- und Glaubenslehre. Wer keinen Infāq tätigt, kann kein*e gute*r Muslim*in sein. Entsprechend gehört es zu den Aufgaben von Muslim*innen den Infāq auszuüben, sobald sie dazu in der Lage sind.

In den Versen 261 bis 274 der Sura Al Baqara wird ausführlich dargelegt, wozu der Infāq gut ist, was sein Ziel ist und mit welchen Waren, Gütern und Spenden geholfen werden kann. Selbst die Art und Weise der Zuwendung wird geklärt. Der Koran arbeitet auch mit Vergleichen und erklärt, wie das Spenden den Lohn für die einzelne Person, die spendet, deutlich erhöhen kann.

Entsprechend der Verse können folgende Punkte festgehalten werden:

  • Infāq sollte von der Zurschaustellung entfernt, ausschließlich um das Wohlgefallen Allahs (swt) erreichen zu wollen, getätigt werden.
  • Der Spendende darf die Ehre und die Moral des Spendenempfängers nicht verletzen.
  • Die getätigte Hilfe sollte, wenn nicht Geld gespendet wird, immer mit den guten und besten Waren und Gütern erfolgen.
  • Damit der Infāq auch die wahren Bedürftigen erreicht, sollte man diese vorher selbst und auf eine geeignete Weise ermitteln — gerade im eigenen Umfeld.

In Vers 195 der zweiten Sure heißt es „Infāq auf dem Wege Allahs“. Schaut man sich weitere Verse an, wird deutlich, dass mit diesem Infāq vor allem der Gehorsam gegenüber Allah (swt) gemeint ist. Ebenfalls ist damit gemeint, dem Islam und den Muslim*innen durch Hilfe und Spenden zu helfen. Spenden wird von Muslim*innen als eine religiöse Pflicht und Handlung verstanden. Muslim*innen spenden, um anderen Menschen zu helfen.

Ein Blick in die Geschichte zeigt: Die Form des Infāq reicht von der Unterstützung zur Verteidigung der Heimat, der Organisation von Pilgerfahrten (Hadsch), der Unterstützung von Bedürftigen, Schulen, Bibliotheken, Moscheen, Straßen, Brücken, Brunnen sowie Heime.

Auch Investitionen in den Umweltschutz wurden als eine Form des Infāq verstanden. Viele private und gemeinnützige islamische Stiftungen (awqaf) gründeten sich auch auf dem Gedanken des Infāq, indem ein soziales Problem und dessen Lösung im Vordergrund standen.

Muslim*innen sind zuallererst dazu angehalten, ihre eigene Familie zu unterstützen und ihren Verdienst im Sinne und auf dem Wege Allahs (swt) zu nutzen. Erst wenn die Versorgung der Familie gewährleistet ist, kann man angehäuftes Vermögen mit anderen teilen.

Vorbild ist auch hier der Prophet Muhammad (saw). Dieser hat, wo immer er konnte, verwitweten Frauen und verwaisten Kindern geholten. Der Kalif Umar (ra) hat diese Praxis der Hilfe für die Bedürftigen unter anderem als Pflicht der öffentlichen Hand deklariert. Ebenso wurde diese Pflicht zur Solidarität mit den Schwachen auch eine soziale Säule des Osmanischen Reiches.