Nicht wegschauen, sich kümmern

In Sure 5:90-92 wird der Alkoholkonsum verboten und grundsätzlich wird vom Konsum psychoaktiver Substanzen abgeraten, da sie die Wahrnehmung vernebeln. Gleichwohl gibt es in unserer Gemeinde Menschen, die süchtig sind oder ein Suchtverhalten aufweisen.

Begriffe wie Sucht und Suchtmittel, Drogen und Drogenabhängigkeit oder Spielsucht, Internetsucht und Alkoholsucht schrecken uns ab. Deshalb kommt es nicht selten vor, dass wir uns von Betroffenen distanzieren. Das wiederum führt dazu, dass die Betroffenen ihre Situation oft verheimlichen, um nicht von der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden. Aus diesem Grund wird häufig auch das Angebot von Hilfs- und Beratungsstellen nicht angenommen – zu groß ist die Furcht vor gesellschaftlicher Ächtung und Gesichtsverlust.

Wenn wir in der muslimischen Community mitbekommen, dass jemand süchtig ist, wird er meistens als ein „Fasik“ stigmatisiert – sein Glaube wird in Zweifel gezogen, weil er gegen ein religiöses Verbot verstößt. Oder er wird als ein „Schwächling“ betrachtet, der sein „nafs“ nicht unter Kontrolle hat. Diese Ablehnungsreflexe erschweren es den Betroffenen, sich hilfesuchend an unsere Gemeinden zu wenden. Sie fürchten, abgelehnt und zurückgewiesen zu werden und haben es umso schwerer, dem suchtbedingten sozialen Abstieg etwas entgegenzusetzen.

Aber als muslimische Gemeinschaft muss es doch vielmehr unsere Aufgabe sein, uns offen mit diesem Thema auseinanderzusetzen und die betroffenen Menschen aufzufangen, statt sie weiter in einem selbstzerstörerischen Teufelskreis leiden zu lassen. Sind denn die Moschee und vor allem das Gebet nicht die Befreiung von all unseren weltlichen Sorgen, wenn wir „Allahuekber“ sagen und uns von unseren Zwängen und Fehlbarkeiten loslösen und durch den Kontakt zum Schöpfer wieder an Stärke, Mut und Zuversicht gewinnen? Und haben wir dies nicht gerade dann am Nötigsten, wenn wir uns kraftlos, ängstlich und hoffnungslos fühlen?

Wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass die Suchttherapie viel erfolgreicher verläuft, wenn Betroffene in stabilen sozialen und familiären Verhältnissen leben und in einer religiösen Gemeinde verankert sind, da suchtkranke Menschen sich häufig intensiver mit existenziellen Fragen beschäftigen und den Sinn ihres von der Sucht geprägten Lebens hinterfragen.

Natürlich ist es nicht die Aufgabe der Moscheegemeinden, den Suchtkranken zu therapieren. Aber der offene Umgang mit diesem Thema kann den Betroffenen helfen, sich aus einer scheinbar ausweglosen Situation zu befreien und den Zugang zu Hilfe und Beratung erleichtern.

Wenn wir den Tawhid Gedanken auf die Ummah übertragen und das Gefühl haben, ein Teil vom Ganzen zu sein, können Abschweifungen von der Norm uns nicht von dieser starken Einheit trennen. Sie müssen uns vielmehr verdeutlichen, dass Gott uns in vielerlei Weise prüfen kann. Durch Stärke, aber auch durch Schwäche. Durch Wohlstand, aber auch durch Not.

Uns muss dabei immer bewusst sein, dass diese Prüfungen niemals eine Prüfung des Einzelnen sind, sondern in die Gemeinschaft hineinwirken und auch diese einer Prüfung unterziehen. Die Stärke des Einzelnen soll stets auch dazu dienen, die Schwachen innerhalb einer Gemeinschaft zu stützen. Ebenso muss die Not des Einzelnen durch die Stärken einer Gemeinschaft aufgefangen und gemindert werden, wenn wir uns unserem Schöpfer gegenüber dankbar und verantwortungsbewusst erweisen wollen.

Als Menschen sind wir einander anvertraut. Wenn wir Hilfe brauchen, müssen wir uns dessen nicht schämen. Und eine Gemeinschaft ist nur dann wirklich eine, wenn sie sich um jeden Einzelnen kümmert, ohne auf ihn herabzublicken. Nur dann können wir den Anspruch, das Geschöpf um des Schöpfers willen zu lieben, wirklich mit Leben füllen. (sbk)